See der Träume by Edwards Kim

See der Träume by Edwards Kim

Autor:Edwards, Kim [Edwards, Kim]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Herausgeber: Aufbau Digital
veröffentlicht: 2015-12-16T16:00:00+00:00


Am Ende der Seite wurden die Buchstaben immer wackliger und größer. Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück, zitternd hielt ich das brüchige Papier in der Hand. Mit diesem Brief änderte sich alles – die Geschichte, die mich mein Leben lang geprägt hatte, und alle, die mir nahestanden. Er würde mit dem Kometen beginnen, aber das ist falsch.

Was mochte passiert sein, dass die beiden aus ihrem bisherigen Leben geflohen waren? Welche Schwierigkeiten hatten sie zu jener Zugfahrt getrieben, Rose und meinen Urgroßvater, den sorglosen Träumer?

Die Standuhr schlug in melodischen Tönen vier Uhr. Gleich darauf hörte ich Schritte auf der Treppe. Ohne groß nachzudenken, steckte ich die restlichen Briefe in die Ledermappe zurück und verstaute sie in meiner Umhängetasche. Schon stand die junge Frau in der Tür. Die Kreolen in ihren Ohren glänzten im Nachmittagslicht.

»Wow, wie viele Ohrringe haben Sie eigentlich?«, platzte ich nervös heraus. Die Briefe würden sofort auffallen, wenn sie einen Blick in meine Tasche warf.

Überrascht berührte sie ihren Ohrschmuck. »Links habe ich acht Stück und rechts neun. Letzte Woche habe ich mir ein Nabelpiercing verpassen lassen. Nur an die Zunge habe ich mich noch nicht getraut.«

»Tut das nicht weh?«

Sie antwortete mit einem müden Lächeln, als hörte sie diese Frage nicht zum ersten Mal. »Ach, es geht. Ganz oben am Ohr schon ein bisschen … Wie sieht es aus, haben Sie was gefunden?«

»Einen Brief«, sagte ich und deutete auf die aufgeschlagenen Seiten vor mir auf dem Tisch. »Zwischen sehr vielen anderen Dokumenten. Es sind ein paar interessante Hinweise drin. Könnte ich ihn vielleicht ein paar Tage mitnehmen?«

»Nein, tut mir leid.« Sie zuckte mit den Schultern, kam herüber und griff nach dem Brief. Ich wollte nicht, dass sie ihn berührte, und musste mich beherrschen, sie nicht zurechtzuweisen, als sie ihn zu lesen begann. »Er ist noch nicht katalogisiert, wissen Sie. Wahrscheinlich hätte ich ihn Ihnen gar nicht zeigen dürfen. Ist er denn interessant?«

»Für mich schon. Für meine Familiengeschichte, nicht für die Geschichte allgemein. Eher ein persönliches Dokument. Deshalb würde ich ihn ja so gern ausleihen.«

»Tut mir echt leid, aber das geht nicht.«

»Na gut. Dann komme ich morgen wieder.«

»Morgen haben wir nicht auf. Normalerweise schon, aber wegen des Seminars ausnahmsweise nicht. Wir probieren im Moment aus, an welchen Tagen die meisten Besucher kommen. Mittwoch und Freitag von neun bis eins ist wieder regulär geöffnet.«

Ein Anflug von Panik durchzuckte mich. In einen der Kartons hatte ich nicht einmal einen Blick geworfen, und am Mittwoch traf ich mich mit Keegan bei der Kapelle. Ich konnte frühestens am Freitag wieder hier sein. Doch ich zuckte nur lächelnd mit den Schultern, weil es mir klüger erschien.

»Ach, schade. Und da kann man gar nichts machen?«

Sie zögerte. »Ich würde Ihnen ja gern helfen, aber ich bin die nächsten Tage nicht da. Mein Freund und ich gehen campen.« Inzwischen war sie neugierig geworden und las das Ende des Briefs laut vor. »›Du bist immer noch dort. Mir schmerzt die Hand vom Schreiben und das Herz vom Rollen der Räder‹ – das klingt wie ein Liebesbrief.«

»Ist es gewissermaßen auch. Eine Mutter hat ihn an ihre Tochter geschrieben.



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